Chaussee der Enthusiasten
Die letzte Show



LESEBÜHNE - 20:00 Uhr
Nur noch am Mittwoch, dem 9.12. in der Alten Kantine

Donnerstag, 5. Dezember 2013

Erb-Baronien und Sozialimplikationen von Tattoos

Die Adventszeit ist die geeignetste aller Zeiten, um die kulturelle Leistung "Tätowierung" zu würdigen. Der soziale Weg, den die Unter-der-Haut-Tinte genommen hat, ist beachtlich: Seefahrer brachten sie von der Südsee mit nach Europa. In Russland, so geht die Legende, waren Seeleute am Hals in Kehlkopfnähe tätowiert und bekamen aufgrund eines Erlasses Peters des Großen, Wodka für umsonst in den Petersburger Kneipen. Statt einer mündlichen Bestellung schnippten sie sich einfach gegen die Kehle - eine Geste, die bei den Russen noch heute für "Sich besaufen" steht.
Es tätowierte sich im 20. Jahrhundert, wer sozial nichts zu verlieren hatte: Knastbrüder, Auto-Scooter-Buden-Betreiber. Und im Anschluss jene, die demonstrieren wollten, dass sie nichts zu verlieren hätten: Rockmusiker, Punks. Die Erodierung sozialer Konventionen führt schließlich zum Barriere-Bruch um die Jahrhundertwende: Jetzt wird die 60jährige von ihrer Tochter überredet, sich aus optischen Gründen "was Schinesisches steschen" zu lassen, wo früher ein "Streenchen" beim Frisör gereicht hätte. Aber obwohl in Deutschland heute jeder Vierte zwischen 30 und 40 tätowiert ist, sind die Dauerbemalten immer noch nicht auf der sicheren Seite.
Tätowierte tendieren eher zu riskantem Verhalten und Selbstmord.
Sie haben insgesamt ein geringeres Bildungs-Niveau.
Sie haben geringere Chancen, einen Job zu finden und verdienen im Schnitt weniger.


Aber all die Nachteile werden natürlich aufgewogen dadurch, dass Altenpfleger in ein paar Jahrzehnten ihre Arbeit an unserer Generation viel lieber verrichten werden, einfach weil es auf unseren Körpern viel mehr Botschaften zu entziffern gibt. Unser Körper gleicht dann mittelalterlichen Fresken, und die Pflegerinnen werden untereinander prahlen, wer die interessantesten Botschaften zu lesen vermag.
Um die eigene Toleranz für Tätowierungen zu testen, kann man das Gedankenexperiment durchführen, welche Art von Tätowierung hinzunehmen bereit wäre, wenn man, sagen wir, wegen eines Verkehrsdelikts im Gerichtssaal sitzt und der Richter, zu den Dauerbemalten zählt. "Love" und "Hate" auf den Fingerknöcheln? Ein aus dem Roben-Kragen herausragender Drachenflügel? Ein tätowierter Clownsmund? Oder die Aufschrift auf der Stirn: "Ich gehorche nur Doktor Mabuse"?

Heute Abend wird uns unser englischer Lieblingsgast Jacinta Nandi vielleicht darüber aufklären, was es mit der neuen aristokratischen Frauen-Bewegung auf sich hat, die das männliche Monopol auf die Vererbung von Baronen-Titeln knacken will.

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